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MIT RÜCKENWIND IN DIE ZUKUNFT

Wir können die Herausforderungen der Zukunft nicht mit Wachstums– und Wohlstandsmythen der Moderne lösen. Wir brauchen neue Narrative – meint Annette Kehnel, Professorin für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Ihr Buch „Wir konnten auch anders“ ist mit dem NDR-Sachbuchpreis ausgezeichnet worden und ihr Blick ins Mittelalter zeigt: Wir haben schon einmal nachhaltig und sozial gelebt. Die Professorin plädiert für den Aufbruch in die Zukunft. Warum Mannheim dafür das optimale urbane Umfeld bietet, erklärt sie im Interview.

„Kulturelle und religiöse Toleranz sind Schlagwörter, die Mannheim von Anfang an geprägt haben. Die heutige Multikulturalität ist das Erbe aus dieser Gründerzeit.“

Prof. Dr. Anette Kehnel

Sie haben in Freiburg, Oxford und München studiert, in Dublin promoviert und in Dresden geforscht. Warum kamen Sie nach Mannheim – und sind geblieben?

Mannheim hat mir ein attraktives Jobangebot gemacht: Ich war jung, hatte kleine Kinder und den Kopf voller Ideen – da kam das Angebot, Professorin in Mannheim zu werden, gerade recht. Ich bin der Uni bis heute dankbar für das mutige Angebot damals.

Warum war das mutig?

Es ist ein großes Risiko, eine junge Person gleich auf einen Lehrstuhl zu berufen, noch dazu eine Frau mit Kindern. Vor 17 Jahren war das ein mutiger Schritt der Philosophischen Fakultät. Für mich war es perfekt: Ich konnte meine Ideen verwirklichen und Mannheim ist eine kinderfreundliche Stadt. Das haben mir auch meine internationalen Kollegen bestätigt: Eine Freundin von mir aus Cambridge hat ein Jahr mit ihren Kindern in Mannheim gelebt und war begeistert von der großen Willkommenskultur.

Welchen historischen Ursprung hat die Mannheimer Willkommenskultur?

Die Diversität in Mannheim ist historisch gewachsen. Sie begleitet die Stadt seit ihrer Gründung durch den Kurfürsten Friedrich IV. Die Stadtprivilegien zum Beispiel wurden in vier Sprachen ausgestellt. Deutsch, Italienisch, Französisch und Niederländisch, denn Mannheim wollte Zuwanderer aus ganz Europa anlocken. Die Stadt musste sich also von Anfang an offen aufstellen. In der Gründungsurkunde ist Diversität fest verankert. Kulturelle und religiöse Toleranz sind Schlagwörter, die Mannheim von Anfang an geprägt haben. Die heutige Multikulturalität ist das Erbe aus dieser Gründerzeit.

 

1606 wurde Mannheim in seiner bis heute erhaltenen Gitterform angelegt. Neben der Quadratestruktur und der Multikulturalität: Ist in Mannheim noch viel aus dieser Zeit erhalten und im urbanen Leben spürbar geblieben?

Da gibt es sehr viele Beispiele. Die Regionalmesse Maimarkt, wie wir sie heute noch in Mannheim haben, geht auf Privilegien aus dem 17. Jahrhundert zurück. Und da sind beispielsweise die Bierbrauer und die lokale Gastronomie: Es gab im Jahre 1680 fast 100 Wirtshäuser und 25 Brauereien. Unsere traditionsreichste Privatbrauerei Eichbaum geht aufs 17. Jahrhundert zurück. Viele dieser Geschichten und Details sind im Stadtarchiv Marchivum sehr gut verfügbar. Dort finden alle, die es interessiert, eine hervorragend aufgearbeitete Stadtgeschichte.

2021 ist ihr Buch „Wir konnten auch anders“ erschienen, das sehr spannend historische Beispiele für nachhaltiges Wirtschaften und Zusammenhalt anführt. Es geht aber auch um den Klimawandel, um weltweite Ungerechtigkeit und um die gigantischen globalen Herausforderungen unserer Zeit. Ist es trotzdem ein optimistisches Buch?

Auf jeden Fall. Ich versuche Auswege aus der Alternativlosigkeit zu zeigen. Die Geschichte lehrt uns, dass wir auch anders können. Wir haben Handlungsspielräume. Der Blick in die Vergangenheit zeigt auch: Menschen können sich verändern.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass der Stuhl erst im 19. Jahrhundert demokratisiert wurde. Wie ist das gemeint? Ein Leben ohne Stühle können wir uns heute doch gar nicht vorstellen.

Tatsächlich haben sich die Menschen damals viel mehr bewegt. Im ersten Moment stolpert man vielleicht über diese Vorstellung, weil uns der Stuhl so selbstverständlich geworden ist, aber das Beispiel zeigt: Es geht auch anders! Heute sitzen wir den ganzen Tag auf einem Stuhl, holen uns Bandscheibenvorfälle und Rückenbeschwerden. Aber das könnte auch wieder ganz anders werden. War ja schon mal anders.

Was ist ihr Lieblingsbeispiel aus der Vergangenheit?

Avignon! Obwohl die Wirtschaft wuchs, gab es in der französischen Stadt ein entscheidendes Problem: Die reißende Rhône erschwerte den florierenden Handel immens, man brauchte also eine Brücke. Allerdings war das nicht nur eine technische, sondern auch eine politische Herausforderung. Es gab auch damals verschiedene Parteien mit verschiedenen Interessen. Stadtherr, Bischof und Kaiser waren viel zu zerstritten, als dass man sich auf ein Bauprojekt hätte einigen können. Und in dieser verfahrenen Situation treibt ein junger Mann aus den Bergen das Projekt voran: Sein Name war Bénézet, kam von außerhalb, und glaubte felsenfest an die Brücke. Irgendwie schaffte er es, die Energie in der Stadt zu bündeln, sorgte dafür, dass alle an einem Strang zogen. Ein bisschen wie Fridays for Future heute.

Bénézet selbst hat die Fertigstellung nicht mehr erlebt. Woher nahmen die Menschen damals die Motivation, solche Bauprojekt umzusetzen?

Ja, das war tragisch. Bénézet selbst erlebte die Fertigstellung der Brücke nicht. Immerhin wurde er zum Schutzpatron der Stadt erklärt. Woher die Motivation kam? Ich glaube, das was man in Österreich Gemeinwohlwirtschaft nennt, war in der Vormoderne überlebenswichtig. Man dachte breiter und langfristiger. Über den Tellerrand der eigenen Generation hinweg.

Wie kann man Menschen heute dazu motivieren über den eigenen Tellerrand zu schauen und die Zukunft nachhaltig zu gestalten?

Ich definiere Nachhaltigkeit im Sinne von Anna Amalia, Herzogin von Sachsen-Weimar, die die 1775 die weltweit erste Forstreform durchsetzte: Nachhaltigkeit heißt einfach für „die Nachkommenschaft […] die gehörige Sorge zu tragen“. Dass Menschen dazu in der Lage sind, dafür bietet die Geschichte genügend Stoff. Unsere Gesellschaft muss endlich wieder mehr Anreize für Enkeltauglichkeit setzen. Das zunehmende Bewusstsein für die planetaren Grenzen – es gibt keinen zweiten Planeten – spielt eine wichtige Rolle und macht uns als Weltgemeinschaft sensibler. Und wir müssen wirtschaftliche Anreize auch für enkeltaugliche Produktion setzen.

„Mannheim soll eine so wandelbare Stadt bleiben, wie sie es heute ist. Der Rückenwind für Startups, Studierende und Investoren muss weiter stark bleiben. Wir haben heute super Bedingungen in Mannheim und ich wünsche mir, dass das weiter vorangeht.“

Prof. Dr. Anette Kehnel

Lassen Sie uns ein kleines Assoziationsspiel spielen: Wir nennen ein aktuelles Schlagwort und Sie sagen. ob und wie es das schon im Mittelalter gab …

Recycling und Upcycling?

Im Mittelalter war die Kreislaufwirtschaft der Goldstandard. Alles hatte einen Wert. Zum Beispiel Kleidung: Aus dem Rock wurde ein Hemd geschneidert, dann Kinderkleidung – und wenn nur noch ein Stofffetzen übrig war, kam das Kleidungsstück in die Lumpenmühle und aus dem Lumpen wurde Papier gezaubert.

Fairtrade-Town?

Das Wohl der Gemeinschaft war eines der obersten Kriterien im Denken des Mittelalters. Wirtschaftswachstum produziert Gewinner und Verlierer. Für die Verlierer gab es im Mittelalter Mikrokreditbanken. Kleinkredite für Geringverdiener, um soziale Spannungen auszutarieren. Ziel war es dabei nicht, aus dem Tellerwäscher einen Millionär zu machen, sondern zu gewährleisten, dass auch der Tellerwäscher in Würde arbeiten konnte.

Startups?

Das Mittelalter war ein experimentelles Zeitalter. Aus dieser Zeit stammen Erfindungen wie die Brille oder Mikrokredite, aber auch Konzepte wie Corporate Social Responsibility oder Compliance wurden groß geschreiben. Am spektakulärsten war die Erfindung der Universität: Heute würde man von Think Tanks sprechen. Lateinisch „universitas“ meint wörtlich übersetzt die Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, die sich in den großen Städten Europas um das Jahr 1200 zusammentaten – um die Herausforderungen der damaligen Zeit – nämlich Wirtschaftswachstum, Bevölkerungswachstum, Klimawandel – zu meistern.

Das Auto wurde im 19. Jahrhundert in Mannheim erfunden. Welche Erfindung braucht das 21. Jahrhundert aus Mannheim?

Wir haben an der Universität Mannheim sehr starke Wirtschaftswissenschaften. Ich könnte mir vorstellen, dass wir daraus ein globales Konzept für „Circular Consumption“ erfinden: Eine Form des Konsums, in der Reparieren, Recyclen und Upcyclen selbstverständlich mitgedacht werden. Ich fände es klasse, wenn Mannheim den Weltmarkt mit einem Circular-Future Modell erobern würde. Also ein System, das Recyclen komfortabel und profitabel macht.

Lassen Sie uns weiter in die Zukunft blicken: Was wünschen Sie sich für Mannheim?

Ich wünsche mir, dass die Offenheit erhalten bleibt. Mannheim soll eine so wandelbare Stadt bleiben, wie sie es heute ist. Der Rückenwind für Startups, Studierende und Investoren muss weiter stark bleiben. Wir haben heute super Bedingungen in Mannheim und ich wünsche mir, dass das weiter vorangeht.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Menschen früher zwar weniger Geld, dafür aber mehr Zeit hatten. Wo verbringen Sie ihre Freizeit in Mannheim?

Ich tanze im Mannheimer Sportverein TSV. Ich liebe den Platz und die Cafés rund um den Wasserturm. Und ich liebe die Mannheimer Kunsthalle. Kunst ist ein klasse Experimentierraum. Anselm Kiefer macht aus einer alten Heidelberger Druckmaschine und übergroßen Sonnenblumen eine Synthese von Natur und Technik. Neulich entdeckte ich Klaus Rinkes „Messinstrument für Zeitlosigkeit“ – einfach genial!

Mehr Infos zu Anette Kehnel und ihrem Buch „Wir können auch anders“ hier:

https://www.phil.uni-mannheim.de/geschichte/lehrstuehle/mittelalterliche-geschichte/team/annette-kehnel/

https://www.penguinrandomhouse.de/Buch/Wir-konnten-auch-anders/Annette-Kehnel/Blessing/e574252.rhd

Interview: Lena Fiedler / LA.MAG

Fotos: Sebastian Weindel